Indien, Tschechien, Kolumbien: Bald leben mehr als vier Milliarden Menschen in Schwellenländern. Frugale Innovationen – Innovationen, die sich auf Kernfunktionalitäten konzentrieren und speziell preisbewusste Kunden durch günstige Kosten bei optimiertem Leistungsniveau überzeugen – gelten als Motor für diese Wachstumsmärkte bzw. Emerging Markets. Ich zeige auf, was frugale Innovationen auszeichnet, wie Unternehmen davon profitieren und welche Erfolgsfaktoren für die Umsetzung gelten.

Nicht selten bin ich im Zusammenhang mit frugalen Innovationen mit Fragen konfrontiert, ob frugal etwas mit Früchten zu tun haben. In der Tat lässt sich der Wortstamm zurückführen auf das lateinische Wort „frugalis“, was so viel heißt wie „von Feldfrüchten stammend“. [1]. Im Zusammenhang mit Innovationen wird allerdings häufig die französische Bedeutung des Worts „frugal“, nämlich „einfach, sparsam“, herangezogen. Synonyme für den Begriff „frugal“ sind Wörter wie „anspruchslos“, „bescheiden“ und „einfach“ [2].

Wenn ich das meinem Gegenüber erkläre, kommt oft verblüfft zurück: „Einfache Innovation? Also kleine, keine echten Innovationen? Nichts Besonderes?“ – Im Gegenteil: Der Begriff „frugal“ bezieht sich weniger auf die Innovationsleistung, d. h. sie ist keine kleinere oder schlechtere Innovation, vielmehr adressiert frugal den Nutzerkreis bzw. die Anforderungen, die die Innovation zu leisten hat.

Was ist frugale Innovation?

Frugale Innovation sind einfache, bescheidene und nicht luxuriöse Produkte mit den Eigenschaften "funktional", "robust", "benutzerfreundlich", "wachsend“, erschwinglich" und "lokal". Zusätzlich soll mit dieser Innovation ein wachsender Markt bedient werden. Im Kern meint "frugal", dass durch die Innovation eine erhebliche Reduktion der Kosten erzielt und ein optimiertes Leistungsniveau erreicht wird – bei Konzentration auf die Kernfunktionalitäten eines Produkts.

Die häufigsten und bedeutendsten Veröffentlichungen zum Thema frugale Innovationen gehen auf das letzte Jahrzehnt zurück, was zeigt, dass die Thematik relativ jung bzw. modern ist. Die Ansichten zu den Eigenschaften und Schwerpunkten frugaler Innovationen unterscheiden sich dabei erheblich. Fest steht: Aus den sechs Buchstaben des Begriffs frugal lassen sich sechs Eigenschaften ableiten (siehe Abb.1) [3].

Abb. 1_Frugale Innovation

Abb. 1: Frugal als Akronym mit sechs Hauptkriterien [3; 4]
 
 
  • Funktional meint also, dass sich das Produkt auf seine Kerneigenschaft beschränkt und nicht „over-engineered“ ist, dass also nicht zu viele Funktionen vorhanden sind, die der Kunde nicht nutzt bzw. nicht benötigt (vgl. Abb. 2).
  • Robustheit kann im Zusammenhang mit frugal bedeuten, dass die Innovation eine lange Lebensdauer besitzt [6]. Zudem ist die Innovation wartungsarm, wartungsfreundlich und unempfindlich gegenüber äußeren Einflüssen [6]. Diese Eigenschaft ist auch eine Konsequenz des Weglassens unnötiger Bauteile, denn eine einfachere Konstruktion und Reduktion der Komponenten führt zu weniger potenziellen Fehlerquellen – und damit eben auch zu einer erhöhten Robustheit [7].
  • Das „U“ in frugal steht für „user-friendliness“, d. h. also für Benutzerfreundlichkeit): Ein benutzerfreundliches Produkt ist einfach aufgebaut, intuitiv und leicht zu bedienen. Es ist nicht mit zu vielen, wenig genutzten Nebenfunktionen überladen (vgl. Abb. 2).

Abb. 2_Waschmaschine

Abb. 2: Überfunktionale Waschmaschine [5]
  • Growing meint, dass ein wachsender Markt, z. B. ein Schwellenland-Markt (s. weiter unten), idealerweise mit hohen Stückzahlen bedient wird. Die Innovation ist demnach für wachsende Märkte mit einem hohen Arbeitskräftepotenzial ausgelegt, weil die Wirtschaftlichkeit des frugalen Produkts aus einem hohen Umsatz und den dadurch erzielten Skaleneffekten resultiert [8]. Demnach sind frugale Innovationen Produkte mit minimalen Margen, die durch einen hohen Absatz ausreichenden Profit erreichen [9]
  • Um das für den Umsatz erforderliche hohe Absatzvolumen zu erreichen, muss das Produkt erschwinglich sein (= affordable). Die frugale Innovation muss also für den ressourcenbeschränkten Zielkunden einen hohen Mehrwert bei aufbringbaren Kosten liefern [10]. Die aufzubringenden Kosten orientieren sich bei frugal häufig an nicht-frugalen Konkurrenzprodukten. Das frugale Produkt muss somit eine deutliche Kostenreduzierung für den Nutzer aufweisen [11].
  • Eine Anpassung an die lokalen, auf Umwelt, Infrastruktur und Regularien bezogenen Gegebenheiten [12, 13] dient als Basis für nachhaltigen Erfolg, z. B. in Schwellenländern. Diese Anpassung wird mit dem Wort „lokal“ beschrieben [14]. Des Weiteren bezieht sich der Begriff „lokal“ auf eine enge Zusammenarbeit westlicher Firmen mit Partnern vor Ort und das Teilen von technischem und marktbezogenem Knowhow [15]. Außerdem werden eine lokale Produktion, lokale Entwicklungsabteilungen, die Verwendung lokaler Ressourcen und die Kooperation mit lokalen Vertriebspartnern mit frugalen Innovationen in Verbindung gebracht [3]. 

Diese sechs Eigenschaften des Begriffs „frugal“ lassen sich noch weiter clustern [16]. Aus einer Analyse zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu frugalen Innovationen haben sich drei Kernaspekte etabliert, die die Eigenschaften frugaler Produkte wie folgt zusammenfassen [16]:

  • Substanzielle Kostenreduktion,
  • Konzentration auf Kernfunktionalitäten und
  • optimiertes Leistungsniveau

Um als frugales Produkt kategorisiert zu werden, müssen die Kosten aus Perspektive der Kunden reduziert werden, also ein geringerer Anschaffungspreis oder/und niedrigere Unterhaltskosten vorliegen [11]. Durch eine konsequente Konzentration auf essenzielle Nutzerbedürfnisse und die Beseitigung von Unnötigem wird versucht, etwas Neues zu schaffen und dadurch signifikant Kosten zu senken [17].

Der Fokus auf Kernfunktionen bei frugalen Produkten beschreibt die Konzentration auf das Wesentliche. Dadurch werden nicht nur Kosten gesenkt, sondern das Produkt auch in der Verwendung vereinfacht und benutzerfreundlicher gemacht [11].

Das optimierte Performancelevel bezeichnet die Eigenschaft frugaler Produkte, ihren jeweiligen Einsatzzweck optimal zu erfüllen. Kernfunktionen reichen nicht aus – bei frugalen Produkten kommt es auch darauf an, wie ein Produkt genutzt wird. In manchen Fällen muss ein frugales Produkt sogar eine qualitativ bessere Leistung erbringen als das konventionelle Produkt. Ein einfaches Beispiel dafür sind Autohupen, die für den indischen Markt konzipiert sind. Es mag lustig klingen, aber Fakt ist: In Indien werden Hupen exzessiv genutzt und müssen daher weitaus größeren Belastungen standhalten als europäische Hupen (vgl. Abb. 3) [11].

Abb. 3_Hupen

Abb. 3: Optimiertes Performancelevel im indischen Straßenverkehr – durch exzessiven Einsatz von Hupen [18]

Die Leistung des frugalen Produkts muss insoweit optimiert sein, dass es den Zweck bestmöglich erfüllt. Im Falle eines „Over-Engineerings“ würde der Preis steigen und somit das erste Kriterium nicht eingehalten werden [11]. Zusammenfassend lassen sich Produkte nur dann als frugal charakterisieren, wenn sie alle der drei oben aufgeführten Hauptkriterien simultan erfüllen [11].

Warum braucht es frugale Innovationen? – Wichtigkeit für Schwellenmärkte

Im Zusammenhang mit Produkten wird der Ausdruck frugal zur Bezeichnung von Innovationen verwendet, die auf die Knappheiten und das Umfeld in Schwellenländern angepasst sind. Mittlerweile hat sich für den Begriff der Schwellenländer bzw. von aufstrebenden Märkten der internationale Begriff „Emerging Markets“ durchgesetzt (vgl. [19]).
Emerging Markets zeichnet eine schnell fortschreitende Industrialisierung und die Entwicklung einer freien Marktwirtschaft oder Mischwirtschaft aus [20]. Trotz schnellem Wirtschaftswachstum in diesen Ländern ist das Einkommen pro Einwohner meist unterdurchschnittlich [21]. Die Kaufkraft der dort aufkommenden Mittelschicht ist dementsprechend deutlich geringer als in westlichen Ländern und resultiert in einem enormen Preisdruck. Frugale Innovationen bieten daher eine große Chance für Unternehmen, ein neues Marktsegment zu erschließen und das Potential der Emerging Markets ausschöpfen zu können [3].

Es existieren mehrere Ansätze, welche Länder als Emerging Markets definiert werden können. Eine verbindliche Liste der Schwellenländer gibt es nicht, ihre Zahl schwankt je nach Liste bzw. Quelle zwischen 10 und 55. Ich möchte an dieser Stelle zwei Definitionen vorstellen, die mir als die sinnvollsten erscheinen.

Beispielsweise teilt die Asian Development Bank (ADP), 25 Länder den Emerging Markets zu. Davon liegen elf in Asien (u. a. China, Indien, Indonesien, Thailand, etc.), sechs in Europa (u. a. Polen, Tschechien, Russland, Türkei, etc.), sechs in Süd- und Mittelamerika (u. a. Brasilien, Mexico, Kolumbien, Chile etc.) und zwei in Afrika (Ägypten, Südafrika) [19]. Der amerikanische Finanzdienstleister MSCI zählt dagegen nur 24 Schwellenländer zur Kategorie Emerging Markets. Die Einteilung ähnelt der der ADP. Grafisch sind die Länder in Abb. 4 schwarz markiert. [22]

Emerging Markets

Abb. 4: Emerging Markets gemäß der Einteilung von MSCI [22]

Die nachfolgende Auflistung zeigt häufig verwendete Kriterien für die Klassifizierung von Ländern als Emerging Markets [23]:

  • Überdurchschnittliches wachsendes Bruttoinlandprodukt,
  • überdurchschnittlich wachsendes Pro-Kopf-Einkommen,
  • überdurchschnittliches exportorientiertes Wachstum,
  • Zunahme des Industrialisierungsgrads, gemessen am Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt und
  • gezielte Industrialisierungspolitik seitens der Regierung.

Die Wichtigkeit der Emerging Markets wird bei der Betrachtung von Wirtschaftsprognosen deutlich. Abb. 5 zeigt die Entwicklung der Mittelschichtspopulation in Europa und der Asien-Pazifik-Region im Zeitraum von 2015 bis 2030. In Europa wächst diese kaum merklich um nur neun Millionen Menschen; ein Wachstum von knapp über einem Prozent. In der Asien-Pazifik-Region steigt die Population dieser Schicht im gleichen Zeitraum um mehr als 150 Prozent. Ein Großteil dieser neuen Mittelschicht lebt in China und Indien. [24]

Mittelschichtsentwicklung

Abb. 5: Prognose der Mittelschichtsentwicklung [24]

Abb.6 verdeutlicht auch den wahrscheinlich zukünftigen Aufstieg aktueller Emerging Markets zu führenden Wirtschaftsnationen. Mehrere Studien (darunter [25]) gehen davon aus, dass von den heutigen Industrienationen in wenigen Jahren nur noch die USA unter den sieben größten Wirtschaftsnationen vertreten sein wird. Nach dieser Prognose würde China zur führenden Wirtschaftsnation, gefolgt von Indien und den USA. Deutschland würde von Indonesien, Brasilien, Russland und Mexiko überholt werden [26].

Bruttoinlandsprodukt

Abb. 6: Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in den nächsten Jahren [26]

Wachstumschance Emerging Markets 

Neben der neuen Konkurrenzsituation, die von den Emerging Marktes ausgeht, bieten diese aufstrebenden Märkte auch viele neue Kunden und Chancen für westliche Unternehmen – genau das macht sie so attraktiv. Emerging Markets entwickeln sich immer mehr zu den Wachstumsmotoren der Welt. In Zukunft werden der globale Bevölkerungswandel und das Populationswachstum weiterhin wesentliche Antriebsfaktoren für frugale Produkte sein [27]. In den Emerging Markets befinden sich – bezogen auf ihr Einkommen – etwa 50 Prozent der Bevölkerung am sogenannten “Bottom-of-the-Pyramid“, am unteren Ende der Wohlstandspyramide (siehe Abb. 7). Zusätzlich lebt eine enorme Anzahl in unterentwickelten ländlichen Gegenden. Sogar die neue Mittelklasse besitzt kaum kommerzielle Produkte und verwendet fast ausschließlich markenlose Produkte [28; 29]. Speziell der wirtschaftliche Aufstieg von China und Indien hat ein neues Marktsegment erzeugt, welches ein Ziel innovativer Produkte der Zukunft darstellt [30]. Um diese beiden Märkte der wachsenden Mittelschicht entsteht ein großer Konkurrenzkampf – und macht dieses Marktsegment zum „nächsten globalen Schlachtfeld“ [31]. Aufgrund gesättigter Heimatmärkte orientieren sich Firmen aus den Industrieländern zunehmend in Richtung Emerging Markets [29] – und frugale Innovationen sind der Schlüssel dafür (vgl. Abb. 7).

Abb 7_Marktsegmente etc

Abb. 7: Potenziale der Marktsegmente und die Positionierung westlicher Unternehmen [14]

Beispiele für frugale Innovationen

Wie bereits erwähnt, ist die Konzentration auf Kundenbedürfnisse eine zentrale Eigenschaft der frugalen Innovation. Ein Beispiel für die Anpassung von Anforderungen auf den lokalen Zielmarkt ist die Limousine im asiatischen Raum, etwa von Mercedes [32]. Da ein Mercedes-Kunde in Asien meist auf der Rückbank Platz nimmt, während ein Chauffeur das Auto steuert, steht der Komfort auf dem Rücksitz ganz klar im Fokus. Aus diesem Grund befinden sich Klimaanlagenregler im hinteren Bereich des Fahrzeugs [32]. Ebenso ist es üblich, dass die Limousinen länger sind als ihre westlichen Pendants, um dem Fahrgast auf der Rückbank mehr Fußraum zu verschaffen [3].

Oftmals ist in Schwellenländern die medizinische Grundversorgung eingeschränkt. Ein frugales Produktbeispiel, das die existenziellen Mängel in Indien anspricht, ist das MAC 400, ein tragbarer Elektrokardiograph (EKG-Gerät, siehe Abb. 8) von General Electric. Es handelt sich um ein Gerät ohne viele Funktionen, das leicht in der Bedienung ist [33]. Als es 2006 vorgestellt wurde, war es mit etwa 700 € im Vergleich zu herkömmlichen EKG-Geräten nur etwa halb so teuer [32]. Die Kosten für eine einfache EKG-Untersuchung pro Patient liegen bei dem Gerät bei ca. 1 US-Dollar [32].

General Electric

Abb. 8: MAC 400 EKG-Gerät von General Electric Healthcare [34]

Das Gerät war zum Zeitpunkt der Einführung auf dem aktuellen Stand der Technik und widerspricht damit dem gängigen Vorurteil, frugale Produkte seien minderwertig. Gespart wurde durch einen kompakten Drucker, wie er bei tragbaren Ticketmaschinen genutzt wird [32]. Auch wurde auf ein großes Display verzichtet, das üblicherweise den Kurvenverlauf der Herzaktivitäten anzeigt. Stattdessen umfasst das Interface nur wenige Knöpfe und eine Anzeige, die den Betriebsmodus und die Herzfrequenz verrät [33]. Das Gerät ist klein, leicht – und passt in einen Rucksack. Für Ärzte, die in ländlichen Gegenden, z. B. in Indien, arbeiten und häufig Hausbesuche leisten, ist dies ein großer Vorteil. Des Weiteren kann der MAC 400 praktischerweise mit Batterien betrieben werden. Kurzum: Der Mac 400 vereint Funktionalität, Kostenreduzierung und ein optimiertes Performancelevel in einem Produkt.

Ein weiteres Beispiel für die Verwendung lokaler Ressourcen ist der Wasserfilter Swach von Tata Chemicals. Der Filter ist für den Hausgebrauch und kann in einer Stunde drei bis vier Liter Wasser von Bakterien befreien [35]. Dazu nutzt der Filter Reishülsen, ein in Indien gängiges Abfallprodukt, zur Reinigung des Wassers [32]. Durch eine Nanosilber-Beschichtung und die Absorbierungseigenschaften der Reishülsen gelang es den Entwicklern, einen Filter herzustellen, der internationalen Standards gerecht wird [36]. Dadurch löst er auf erschwingliche und nachhaltige Weise das dringende Bedürfnis nach sauberem Wasser in Indien.

Reverse Innovation als zusätzliche Strömung der frugalen Innovation

Neben dem Ziel, sich als Unternehmen in Emerging Markets mit innovativen frugalen Produkten zu positionieren, kann sich noch ein weitaus wichtigerer Nebeneffekt einstellen: Gut funktionierende, frugale Produkte können auch in Industrieländern ihren Absatz vergrößern. In diesem Fall werden frugale Innovationen als "Reverse Innovation“ oder „Trickle-up Innovation“ bezeichnet (siehe Abb. 9) [37]: Das heißt, eine Innovation migriert von Wachstumsmärkten – d. h. von den Schwellenländern, in denen sie entwickelt bzw. produziert wurde – zu den Industrieländern [38]. Innovationen können dabei von Beginn an für den weltweiten Vertrieb entwickelt werden [39]. Weitaus häufiger wird die Innovation zunächst nur in Wachstumsmärkten eingeführt und verbreitet, bevor diese in die westlichen Länder migriert [38].

Abb9_Reverse Innovation

Abb. 9: Reverse Innovation vs. traditionelle Sichtweise [40]

Um das Thema Reverse Innovation noch weiter zu vertiefen, folgen hier ein paar Möglichkeiten, die sich dadurch bieten (vgl. auch Abb. 10):
Niedrigverdiener werden durch den Preis, die Einfachheit und Nachhaltigkeit zum Kauf bewegt [27]. Auch deshalb ist es wichtig, dass westliche Unternehmen sich auf den Emerging Markets engagieren. Ansonsten könnten Unternehmen aus Schwellenländern zukünftig auch in den heimischen Märkten mitbestimmen [3] (Abb. 10). Nehmen wir zum Beispiel den Werkzeugmarkt: Langlebige Produkte, wie Bohrmaschinen, Akkuschrauber oder Handkreissägen, sind in der Regel ausgeklügelte Highend-Geräte mit vielen Zusatz-Features, die oft nur im Profisegment genutzt werden. Hier könnten neue („frugale“) Produkte, die sich vor allem durch Robustheit und einen günstigen Preis auszeichnen, auch auf westlichen Märkten erfolgreich sein. Diese Produkte gehen also vom Low-end Segment aus und etablieren sich mittelfristig über das mittlere Marktsegment auch im Premiumsegment (Abb. 10). Eine Gefahr, der sich deutsche Unternehmen bewusst sein sollten. Die Flucht in Highend-Nischen wird für den langfristigen Unternehmenserfolg nicht ausreichen.

Abb10_Vorstoß-Mitbewerber

Abb. 10: Vorstoß von Marktmitbewerbern aus den Emerging Markts, ausgehend vom „Bottom“ der Wohlstandspyramide [41]

Ein oft zitiertes Beispiel für eine Reverse Innovation ist der Magnetresonanztomograph Magnetom Essenza® von Siemens [42]: Ursprünglich diente er als medizinisches Gerät mit reduzierten Funktionalitäten für Ärzte in Schwellenländern. Heute gibt es das Gerät auch in vielen Arztpraxen der Industrienationen meist als Zweitgerät.

Neben dem Begriff der „frugalen Innovation“ existieren noch zahlreiche andere, inhaltlich ähnliche Konzepte. Die Anzahl der Veröffentlichungen zum Thema frugaler Innovationen ist daher eher überschaubar. In vielen Regionen haben sich bereits andere Begriffe durchgesetzt, die auf ähnlichen Grundlagen beruhen. So ist in Indien vorwiegend der Begriff „Jugaad“-Innovation in Gebrauch [37]. Das Wort steht für eine Lebenseinstellung, nach der die Menschen das wenige Gegebene im Umfeld nutzen, um ein angestrebtes Ziel zu verwirklichen [43]. Es geht darum, mit weniger mehr zu erreichen. Damit ist der Lebensstil vieler Inder beschrieben [44]. In China ist dagegen der Begriff „Jiejian Chuangxin“ geläufig, „Jeitinho“ in Brasilien und „Jua kali“ in Afrika [37]. Hinzu kommen Ausdrücke, die sich auf Schwellenländer beziehen, wie z. B. „Bottom-of-pyramid-Innovation“, „Resource-constrained Innovation“ und „Good-enough Innovation“ [37].

Umsetzung von frugalen Innovationen

Um mit frugalen Innovationen auf Wachstumsmärkten erfolgreich sein zu können, müssen Unternehmen eine neue Herangehensweise an Innovation entwickeln. Für die Mehrheit der westlichen Firmen bedeutet Innovation: die Entwicklung von neuen Produkten mit noch fortschrittlicheren Funktionen zu Premium-Preisen [45]. Diese Denkweise funktioniert in Emerging Markets nicht, da die Produkte hier für eine preissensitive Millionenbevölkerung bestimmt sind [45].

Frugale Innovationen sind vereinfachte, „zurückhaltende“ und nicht-luxuriöse Produkte mit den weiter oben beschriebenen Eigenschaften [3]. Es reicht aber nicht, bei Highend-Produkten einfach einige Nebenfunktionen wegzulassen und damit Schwellenmärkte anzupeilen. Dieser Ansatz geht in den meisten Fällen schief. Ziel ist stattdessen, Innovationen, Produkte oder Dienstleistungen differenzierter zu betrachten und von der Wurzel zu entwickeln, d. h. nicht auf Basis bestehender Lösungen, sondern sprichwörtlich ausgehend von einem weißen Blatt Papier. Frugale Innovationen entstehen eben nicht einfach durch [11]

  • geringfügige Preisreduzierung,
  • Kostenreduzierung – ohne danach zu schauen, welche Funktionalitäten und welches Performancelevel erreicht werden soll,
  • bloße Produktverbesserungen und -modifikationen.

Das Wissen über den Kunden vor Ort ist bei frugalen Innovationen elementar und der große Vorteil lokaler Hersteller. Sie kennen zumeist die spezifischen Anforderungen der Kunden und können ihre Prioritäten und Alltagsbedürfnisse besser einschätzen. Für westliche Unternehmen gilt daher, sich für neue Geschäftsmodelle und Partnerschaften zu öffnen. Häufige Probleme bereiten Unternehmen auch die schlechte Infrastruktur und der niedrigere Bildungsstand in den Emerging Markets. Außerdem ist die Organisation von Verkaufs- und Vertriebswegen mühsam. Hinzu kommt, dass die Lizensierung und Rechtssprechung oft durch schwache Institutionen oder fehlendes Verständnis der lokalen Verwaltung aufgehalten werden. [37].

Weitere wichtige Erfolgsfaktoren bei der Entwicklung frugaler Produkte sind zudem: Entschlossenheit, Unterstützung durch das Top-Management – und Geduld [3].

Im nächsten Beitrag stelle ich Ihnen innovative, agile Methoden und Tools für die Ideenentwicklung vor – nicht nur für frugale Innovationen, sondern jede Art von Verbesserung. Noch Fragen zu dem aktuellen Thema? Nehmen Sie gerne Kontakt auf!

 

Quellenangaben:

[1] Wortbedeutung.info: frugal, 2020;
https://www.wortbedeutung.info/frugal/ - Zugriff am: 30.08.2020.
[2] Duden.de.: frugal, 2012;
https://www.duden.de/rechtschreibung/frugal - Zugriff am: 30.08.2020.
[3] Knapp, O.; Zollenkop, M.; Durst, S.; Graner, M.: FRUGAL: Simply the Best. In: Think Act. Roland Berger, 2015.
[4] Mößner, Philipp: „Frugale Lösungen – Anforderungsgerecht, robust und erschwinglich“, Vortrag auf dem Innovationsforum Frugale Maschinen, Anlagen und Geräte am 8. und 9. November 2018 am Fraunhofer-Institutszentrum Stuttgart.
[5] Amazon.de: Baucknecht-Care-544
https://www.amazon.de/Bauknecht-Care-544-Waschmaschine-Startzeitvorwahl/dp/B003V4A6BK - Zugriff am: 31.08.2020.
[6] Gassmann, O.; Wecht, C.; Winterhalter, S.: Frugal Innovation – die aufstrebende Mittelklasse gewinnen. In: HSG Focus (2014), Nr. 2, S. 16–18.
[7] Lehner, A.-C.: Systematik zur lösungsmusterbasierten Entwicklung von Frugal Innovations. Dissertation. Verlagsschriftenreihe des Heinz Nixdorf Instituts. Band 359. ISBN 978-3-942647-78-6. Verfügbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:466:2-26885 - Zugriff am: 31.08.2020.
[8] Agarwal, N.; Brem, A.: Frugal and reverse innovation - Literature overview and case study insights from a German MNC in India and China: Frugal and reverse innovation. In: Katzy, B., Holzmann, T., Sailer, K., Thoben, K. D. (Eds.): Proceedings of the 2012 18th International Conference on Engineering, Technology and Innovation. München: IEEE, 2012, S. 1-11.
[9] Prahalad, C. K., 2005. The fortune at the bottom of the pyramid. Eradicating poverty through profits. Upper Saddle River, NJ: Wharton School Publishing. ISBN 0-13-146750-6.
[10] Winterhalter, S., Zeschky, M. B.; Neumann, L.; Gassmann, O.: 2017. Business Models for Frugal Innovation in Emerging Markets: The Case of the Medical Device and Laboratory Equipment Industry [online]. Technovation, 66-67, 3-13. ISSN 01664972. Verfügbar unter: doi:10.1016/j.technovation.
[11] Weyrauch, T. und C. Herstatt, 2017. What is frugal innovation? Three defining criteria [online]. Journal of Frugal Innovation, 2(1), 1-17. Journal of Frugal Innovation. Verfügbar unter: doi:10.1186/s40669-016-0005-y.
[12] Agarwal, N., A. Brem und M. Grottke, 2018. Towards a higher socio-economic impact through shared understanding of product requirements in emerging markets: The case of the Indian healthcare innovations. Technological Forecasting and Social Change, 135, 91-98.
ISSN 00401625. Verfügbar unter: doi:10.1016/j.techfore
[13] Sjafrizal, T., 2015. Frugal Innovation Characteristics: Market, Product and Business Perspective [online]. 8th International Seminar on Industrial Engineering and Management, (5), 38-43. Verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/310945884_Frugal_Innovation_Characteristics_Market_Product_And_Business_Perspective - Zugriff am: 31.08.2020
[14] Roland Berger Strategy Consultants, 2013. Frugal products, Study results Verfügbar unter: https://www.rolandberger.com/en/Media/Frugal-products-will-account-for-around-a-quarter-of-Western-manufacturers'-sale.html  - Zugriff am 05.09.2020.
[15] Tiwari, R. und C. Herstatt, 2012. India - a lead market for frugal innovations? Extending the lead market theory to emerging economies. Verfügbar unter: http://doku.b.tu-harburg.de/volltexte/2012/1137  - Zugriff am: 31.08.2020.
[16] Weyrauch, T., 2018. Frugale Innovationen. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. ISBN: 978-3-658-22212-3.
[17] Basu, R., P. Banerjee und E. Sweeny, 2013. Frugal Innovation [online]. Core Competencies to Address Global Sustainability. Journal of Management for Global Sustainability, 1(2), 63-82. ISSN 22446885. Verfügbar unter: doi:10.13185/JM2013.01204.
[18] Bild: Aus dem Stau nicht mehr rauskommen, Quelle: https://www.fluter.de/aus-dem-stau-nicht-mehr-rauskommen - Zugriff am 31.08.2020.
[19] Vong, J.; Song, I.: Emerging Technologies for Emerging Markets. Singapore: Springer, 2015.
[20] Amadeo, K.: What Are Emerging Markets? Five Defining Characteristics. 2018;
https://www.thebalance.com/what-are-emerging-markets-3305927 - Zugriff am: 31.08.2020.
[21] Dehnen, H.: Markteintritt in Emerging Market Economies: Entwicklung eines Internationalisierungsprozessmodells. Dissertation, Bergische Universität Wuppertal, 2012.
[22] MSCI: Global Indexes. 2018;
https://www.msci.com/documents/1296102/1362201/MSCI-Global-Indexes-modern-index-strategy-May-2018.pdf/32d50fc3-d03c-73d9-ba3a-d72f13dfd5eb - Zugriff am: 31.08.2020.
[23] Bergmann, C., 1983. Schwellenländer. Kriterien u. Konzepte. Forschungsberichte des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. ISBN 3803902657.
[24] Kharas, H.: The unprecedented expansion of the global middle class. In: Global Economy and Developement at Brookings (2017).
[25] Hawksworth, J.; Clarry, R.; Audino, H.: The Long View: How will the global economic order change by 2050. 2017; https://www.pwc.com/gx/en/world-2050/assets/pwc-world-in-2050-summary-report-feb-2017.pdf - Zugriff am: 31.08.2020.
[26] WirtschaftsWoche: Konsumhungrige Mittelschicht treibt das Wachstum an , Artikel vom 08.10.2010 https://www.wiwo.de/politik/ausland/schwellenlaender-konsumhungrige-mittelschicht-treibt-das-wachstum-an/5685164.html - Zugriff am 31.08.2020.
[27] Leliveld, A.; Knorringa, P.: Frugal Innovation and Development Research. In: The European Journal of Development Research 30 (2018), Nr. 1, S. 1–16.
[28] Sheth, J.N., 2011. Impact of emerging markets on marketing. Rethinking existing perspectives and practices. Journal of marketing, 75(4), 166-182.
[29] Sinha, M. und J. Sheth, 2018. Growing the pie in emerging markets: Marketing strategies for increasing the ratio of non-users to users [online]. Journal of Business Research, 86, 217-224. ISSN 01482963. Verfügbar unter: doi:10.1016/j.jbusres.2017.05.007.
[30] Zeschky, M. B., S. Winterhalter und O. Gassmann, 2014. From cost to frugal and reverse innovation. Mapping the field and implications for global competitiveness. Research technology management: RTM, 57(4), 20-27.
[31] Gadiesh, O., P. Leung und T. Vestring, 2007. The battle for China's good-enough market. Harvard business review : HBR, 85(9), 80-89.
[32] Economist: First break all the rules: The charms of frugal innovation. 2010;
https://www.economist.com/special-report/2010/04/15/first-break-all-the-rules - Zugriff am: 30.08.2020.
[33] GE Healthcare: MAC 400 brochure german. 2007;
www.hkt-medizintechnik.de/Prospekte/mac_400_bro_g.pdf  - Zugriff am: 31.08.2020.
[34] Bildquelle: GE Healthcare Mac400
http://www.medipment.pl/produkt/GE-Healthcare-MAC400-34411- Zugriff am: 31.08.2020.
[35] CSE Centre for Science and Environment India: Tata uses nano technology for water purifier. 2010; https://www.cseindia.org/tata-uses-nano-technology-for-water-purifier-852 - Zugriff am: 31.08.2020.
[36] Dhanaraj, C; Krishnan, R.: Beyond jugaad. 2013;
https://www.business-standard.com/article/management/beyond-jugaad-111020700062_1.html - Zugriff am: 31.08.2020.
[37] Hossain, M.: Frugal Innovation: A Review and Research Agenda. 2017.
[38] Govindarajan, V.; Ramamurti, R.: Reverse innovation, emerging markets, and global strategy. In: Global Strategy Journal 1 (2011), Nr. 3, S. 191–205.
[39] Bram, A.: Do Frugal and Reverse Innovation foster Sustainability. In: Journal of Technology Management for Growing Economies (2013), Nr. 4., S. 31-51.
[40] Mascia, C.: Literaturrecherche zum Thema Frugal Engineering und Ableitung von Einflüssen auf die konventionelle Produktentwicklung; Studienarbeit im Master, Universität Stuttgart, 2016.
[41[ Albeck, W: Eisenmann Geschäftsmodellinnovationen für das mittlere Marktsegment in China, Vortrag auf Stuttgarter Forum »Erschließung neuer Märkte durch angepasste (frugale) Lösungen – Komplexität reduzieren, Wettbewerbsfähigkeit steigern, 2017.
[42] Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO: Frugale Innovationen, https://wiki.iao.fraunhofer.de/index.php/Frugale_Innovationen#Bedeutung_frugaler_Innovationen - Zugriff am: 31.08.2020.
[43] The Economist: First break all the rules. The charms of frugal innovation. 15 April 2010 Verfügbar unter: https://www.economist.com/special-report/2010/04/15/first-break-all-the-rules - Zugriff am: 31.08.2020.
[44] Creaffective: Co Creation the future: Jugaad – Frugale Innovationen. Verfügabar unter: https://www.creaffective.de/2014/10/jugaad-frugale-innovationjugaad-frugal-innovation/ - Zugriff am: 04.10.2020
[45] Schleinkofer, U.; Herrmann, T.; Maier, I.; Bauernhansl, T.; Roth, D.; Spath, D.: Development and Evaluation of a Design Thinking Process Adapted to Frugal Production Systems for Emerging Markets. In: Dagli, C. H.; Süer, G. A. (Hrsg.): Procedia Manufacturing: 25th International Conference on Production Research. Bd. 39, 2019, S. 609-617.

Gehe zu Abschnitt